Heute gibt die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 420 von den Nazis beschlagnahmte Bücher an die amerikanischen Erben der Familie Petschek zurück. Ein seltener Glücksfall, sagt der Provenienzforscher Frank Möbus, der mit 100 Kollegen nach NS-Beutegut in Bibliotheken sucht.
Joachim Scholl: Die Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis hatte dieses Vorspiel: völlige Entrechtung und Enteignung. Man zwang die Verfolgten, ihr Hab und Gut zu verkaufen oder nahm ihnen gleich alles weg, und was wertvoll war, wurde weiter verscherbelt. Kunstwerke zählten vor allem zu diesem Raubgut, darunter waren auch Bücher, zum Beispiel die Bibliothek der wohlhabenden Familie Petschek. Diese Bücher wanderten bis nach Hamburg in die Staats- und Universitätsbibliothek, wo sie ab 1943 im regulären Bestand verblieb. Heute, 70 Jahre später, gibt die Bibliothek 420 Bände an die amerikanischen Erben der Familie zurück. Swantje Unterberg berichtet.
Scholl: Fachmann auf diesem Gebiet der NS-Raubkunst ist der Literaturwissenschaftler Frank Möbus in ..., wo er für mehrere Institutsbibliotheken Provenienzforschung, also die Suche nach der Herkunft betrieben hat - und dort, aus einem Studio in Göttingen, ist uns Professor Möbus jetzt zugeschaltet. Guten Morgen.
Frank Möbus: Guten Morgen.
Scholl: Von diesen 420 Büchern haben wir gerade gehört, Herr Möbus. Wenn man sich vor Augen führt, dass allein in Deutschland Hunderttausende jüdischer Bürger vertrieben oder deportiert wurden, darunter Zigtausende Akademiker oder wohlhabende, gutbürgerliche Familien mit Büchern. Und wenn man das dann noch europaweit weiterdenkt, dann muss es doch um Abermillionen von Büchern gehen. Hat man auch nur annähernd eine Vorstellung der Größenordnung?
Möbus: Nein. Eine auch nur annähernde Vorstellung der Größenordnung haben wir keinesfalls. Zumal, und das verschärft das Problem gewaltig, es natürlich nicht nur um die Eigentümer, die Besitztümer, Bibliotheken von Juden geht, sondern genauso viele oder fast genauso viele Bibliotheken von Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, den Zeugen Jehovas, von Kirchenbibliotheken, von Gewerkschaftsbibliotheken und so weiter. Die sind auch alle beschlagnahmt worden und sind auch alle verscherbelt worden. Auch das ist NS-Raubgut, und so ist die Zahl der Bücher, um die es uns bestellt sein muss, überhaupt nicht zu schätzen.
Scholl: Sie haben einmal in einem Vortrag vor Provenienzforschern von den "höllischen Herrscharen" gesprochen und damit gemeint, zahlreiche NS-Institutionen, die solcherart Bücher geraubt, katalogisiert, weiterverkauft haben - hatte das also auch System?
Möbus: Ja, selbstverständlich hatte das System. Die Nationalsozialisten haben Bücher geradezu manisch gesammelt, an vielen Stellen. Sie haben die Literatur des Feindes, also der Sozialisten, der Kommunisten, der Regimegegner gesammelt, sie haben die jüdische Literatur gesammelt mit dem perversen Gedanken, dann Denkmäler für die untergegangene jüdische Kultur Europas setzen zu können. Und die verschiedenen Institutionen im ganzen Reich haben sich gegenseitig auch nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gegönnt und haben sich gegenseitig darin übertroffen zu beschlagnahmen, zu plündern, zu rauben.
Scholl: Wie geht eine solche Provenienz, eine Rückverfolgung praktisch vor sich? Wir haben ein Beispiel jetzt gehört in dem Bericht aus Hamburg, also, man schaut in dem Buch und, jetzt stelle ich mir vor, ich bin in einer Bibliothek, plötzlich schlage ich auf, ein Hakenkreuz als Stempel fällt mir auf, eine Nummer, vielleicht auch ein jüdischer Name, Herschel Grün - was mache ich dann mit diesem Buch?
Möbus: Zunächst muss man natürlich sagen, dass der Hamburger Fall ein echter Glücksfall ist. Wir haben Ex libris mit einem auch noch relativ seltenen Namen. Wir haben das Anschreiben. Das ist ein fast lupenrein zu recherchierender Fall, wie wir ihn nur selten finden. Hakenkreuzstempel sind natürlich verdächtig, sind aber durchaus nicht immer eingebracht worden. Und das Problem ist eben, dass wir in aller Regel es nur mit Namenseinträgen zu tun haben, denen wir nachspüren müssen. Ist ein solcher Namenseintrag verdächtig? Wer könnte das gewesen sein? Das wird schon sehr schwierig, denn Namen sind nur selten singulär. Oftmals haben wir es mit sehr, sehr vielen Namensträgern zu tun, die in Frage kommen.
Und dann haben wir natürlich das Problem, dass wir diese Namenseinträge auch entziffern müssen. Handschriftlich ist oft schon schwer genug, handschriftlich jiddisch zum Beispiel oder handschriftlich altrumänisch ist ein richtiges Problem. Da haben wir schon wirklich sehr viel Schwierigkeiten, das erst mal zu verstehen, lesen zu können, zu übersetzen. Da gibt es auch freimaurerische Geheimschriften, die entziffert werden müssen, Texte in Esperanto und so weiter und so fort. Ich persönlich habe es in meinem Projekt mittlerweile mit 50 verschiedenen Sprachen beziehungsweise Alphabeten zu tun gehabt. Und da wird die Recherche eben sehr, sehr schwierig und sehr aufwändig, sehr zeitaufwändig.
Scholl: Der Raub von Millionen Büchern durch die Nationalsozialisten, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Provenienzforscher Frank Möbus. Wir haben vorhin von der Rückgabe gehört, die heute die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg vornimmt. Viele Bücher sind ja in Bibliotheken gelandet. Wie haben sich diese eigentlich nach 1945 verhalten? Haben die diese Bestände einfach katalogisiert und gut war?
Möbus: Ja selbstverständlich. Zum einen muss man natürlich sagen, dass die Bibliotheken durchaus kein Unrechtsbewusstsein hatten, und das fehlende Unrechtsbewusstsein hat sich sehr lange fortgesetzt, setzt sich auch noch in der Gegenwart fort. Das muss man ganz klar sagen. Dazu sind natürlich sehr, sehr viele dieser geraubten Bücher erst nach 1945 in die Bibliotheken gekommen. Sehen Sie, die Bibliotheken mussten ja auch Lücken schließen. In der Regel war die jüdische und die sozialistische Literatur vor 1945 aussortiert worden.