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Das Licht des Südens, zurück aus der Dunkelheit

1998
1970
1945
Die Zeit 14 October 2021

Von Stefan Koldehoff

Vincent van Goghs Aquarell "Heuhaufen" galt seit 1945 als verschollen. Nun ist es wieder aufgetaucht: Das Auktionshaus Christie's könnte einen Rekordpreis dafür erzielen.


"Heuhaufen" ("Meules de blé") von Vincent van Gogh, entstanden im Jahr 1888

Irgendwann im April 1941 kamen sie, und sie wussten genau, wonach sie suchen mussten. Dass die jüdische Konzernerbin Miriam Caroline Alexandrine de Rothschild 1934 von ihrem Vater Edmond eine beachtliche Kunstsammlung geerbt hatte, war auf dem französischen Kunstmarkt damals hinreichend bekannt. Auch dass die Adelige aus ihrem Vermögen noch weitere Werke hinzugekauft hatte, darunter Bilder von Paul Cézanne, Paul Gauguin und Vincent van Gogh. Und es gab im besetzten Paris zehn Monate nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich schon ausreichend viele Kollaborateure, die bereit waren, den Nationalsozialisten zu verraten, wo sie nach den Kunstschätzen der de Rothschilds suchen mussten: auf dem Landsitz der Familie, dem Château Boulogne-Billancourt. Dort, im kaum gesicherten Luftschutzkeller unter dem 1855 errichteten Schloss, fiel ihnen auch jenes Bild in die Hände, das anschließend acht Jahrzehnte lang verschollen bleiben sollte – offiziell jedenfalls. Tatsächlich gab es mindestens zwei Sammler und einen Kunsthändler, die Alexandrine de Rothschild oder ihren Erben vor langer Zeit schon hätten sagen können, wo sich das gestohlene Meisterwerk nach 1945 befand.

Jetzt ist es plötzlich aufgetaucht. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird nun am 11. November Vincent van Goghs großformatiges Aquarell Heuhaufen ("Meules de blé") bei Christie's in New York versteigert. Den Schätzpreis hat das Auktionshaus auf 20 bis 30 Millionen US-Dollar festgesetzt. Nicht zu viel für ein Bild, das viel von dem verkörpert, wofür Kunstsammler seit Jahrzehnten immer neue Kunstpreise bezahlen, wenn sie auf einen van Gogh bieten: den blauen Himmel und das goldene Korn, van Goghs präzise Rohrfederstriche und die flirrende Atmosphäre der südfranzösischen Provence, in die der Maler gezogen war, um das Licht des Südens zu suchen. Dort, in der Nähe von Arles, entstand im Juni 1888 neben mehreren Zeichnungen und einem Gemälde des Bauernhofs mit den imposanten Heuhaufen auch das nach über 130 Jahren noch erstaunlich gut erhaltene Aquarell Heuhaufen.

Bezahlt wird mit dem am Ende mutmaßlich enormen Preis für das Bild, der einen neuen Rekord für eine Papierarbeit von van Gogh markieren könnte, aber auch ein Zeugnis europäischer Zeitgeschichte. Und der Umstand, dass Christie's eine Einigung vermittelt hat zwischen den aktuellen Besitzern und gleich zwei durch die Nationalsozialisten verfolgten und geschädigten Familien, die Anspruch auf das Kunstwerk anmelden könnten. Trotzdem bleiben Fragen offen, verfolgt man die Geschichte des Aquarells.

1913 kaufte der Kölner Unternehmer Max Meirowsky das Blatt in der angesehenen Pariser Galerie Eugène Druet. Als Meirowsky, dessen Firma Isolierstoffe herstellte, später nach Berlin umzog, nahm er seine bedeutende Sammlung von Werken der Klassischen Moderne mit. Ab 1933 sah sich Meirowsky wie Millionen andere Juden und Jüdinnen den Zwangsmaßnahmen ausgesetzt, mit denen die Nationalsozialisten sie physisch, psychisch und wirtschaftlich vernichteten. Meirowsky gelang im Sommer 1938 die Flucht ins Exil nach Genf, er versuchte, dafür Kunst zu verkaufen. Mehrere Menzel-Zeichnungen bot er der Berliner Nationalgalerie an. Im November 1938, zehn Tage nach der reichsweiten Pogromnacht, fand in Berlin dann außerdem eine Zwangsauktion statt, bei der Teile der Sammlung Meirowsky zu Schleuderpreisen verkauft wurden.

Das Van-Gogh-Aquarell gab der Sammler etwa zur gleichen Zeit dem bereits nach Paris emigrierten Kunsthändler Paul Graupe in Kommission. Wenig später erwarb es Alexandrine de Rothschild. Als diese mit Ausbruch des Krieges wie Meirowsky in die Schweiz flüchtete, musste sie unter anderem die Heuhaufen in Boulogne zurücklassen. Einige Werke ihrer Sammlung erhielt sie nach Kriegsende zurück, darunter auch eine Fassung der berühmten Zugbrücke und weitere Gemälde von van Gogh. Das Aquarell aber sollte Alexandrine de Rothschild bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 nicht wiedersehen.

Was mit dem Bild nach dem Krieg geschah, kann nun auch der Auktionskatalog von Christie's nicht vollständig aufklären. Nur so viel ist klar: Nach dem Diebstahl durch den sogenannten "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" (ERR) im April 1941 wurde das Blatt zusammen mit Hunderten anderen gestohlenen Kunstwerken zunächst ins Museum Jeu de Paume in den Tuilerien neben dem Louvre in Paris gebracht. Dort fanden regelmäßig jene berüchtigten Ausstellungen statt, aus denen sich NS-Größen wie Hermann Göring Werke für ihre Privatsammlungen aussuchten. Van Goghs Heuhaufen aber verblieb zunächst in Paris, im Juni 1941 wurde es ins Schloss Kogl bei St. Georgen im oberösterreichischen Attergau gebracht. Dort verlor sich gegen Ende des Krieges die Spur des Bildes.

Bis das Blatt vor wenigen Monaten mit einer Reihe weiterer Kunstwerke von Renoir, Sisley, Cézanne und Caillebotte bei Christie's in New York zur Auktion eingeliefert wurde, von den Erben des texanischen Ölmilliardärs Edward L. Cox. Der hat, stellte sich in dem Zuge heraus, das Aquarell im Jahr 1978 in der New Yorker Galerie Wildenstein gekauft. Doch wo war es vorher, in wessen Händen, und wie ist es in die USA gelangt?

Fest steht, dass Mitglieder der NS-Kunstraubtruppe ERR sich noch bis Kriegsende auf Schloss Kogl aufhielten, unter ihnen prominente Nazis wie der Kunsthistoriker Robert Scholz oder der stellvertretende ERR-Direktor und Münchner Kunsthändler Bruno Lohse. In Lohses Tresor in der Zürcher Kantonalbank fanden sich nach seinem Tod mehrere im Krieg geraubte Kunstwerke. Er unterhielt auch Geschäftsbeziehungen zur Galerie Wildenstein, in der Cox das Bild vor inzwischen 43 Jahren erwarb. Doch der Weg des Bildes zuvor bleibt einstweilen im Dunklen.

Christie's hat mit den Erben von Max Meirowsky und Alexandrine de Rothschild nun eine Beteiligung am Erlös der Auktion des vereinbart. In der zentralen deutschen Datenbank zur Suche nach verlorener Kunst – lostart.de – trägt das Van-Gogh-Aquarell Heuhaufen dementsprechend neuerdings den verkaufsfördernden Vermerk "Gütliche Einigung".

Gesucht wird nach dem Blatt auf der von Bund und Ländern finanzierten Website trotzdem weiter. Das Werk ist dort nämlich noch ein zweites Mal gelistet, mit gleichen Maßen und identischer Werkverzeichnisnummer. Der französische Titel Les Meules wurde da allerdings falsch mit Die Mühlsteine übersetzt – ein Motiv, das van Gogh nie gemalt hat. Obwohl das verantwortliche Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg auf den Fehler bereits mehrfach aufmerksam gemacht wurde, weigert es sich seit Jahren, die doppelte Meldung zu löschen. Die Zahl der gelisteten Einträge wird dort als ein Indiz für erfolgreiche Arbeit gesehen.

https://www.zeit.de/kultur/kunst/2021-10/vincent-van-gogh-aquarell-meules-de-ble-nationalsozialismus-verschollen
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