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"Man muss die Ungenauigkeit festhalten" - "You have to record the inaccuracy"

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Die Zeit 24 February 2020
Interview: Anna Heidelberg-Stein

Raubkunst findet sich überall auf der Welt. Digitale Daten wurden allerdings zur Identifikation bisher kaum genutzt. Ein Forschungsprojekt in Lüneburg will das ändern.


Die Kunsthistorikerin Lynn Rother war bis Oktober 2019 für die Provenienzforschung am Museum of Modern Art in New York verantwortlich. Am 1. November 2019 hat die 38-Jährige die erste Lichtenberg-Professur der Leuphana Universität Lüneburg angetreten, gefördert von der Volkswagen-Stiftung. 

Warum taucht ein Werk, das 1937 als "entartet" von den Nationalsozialisten in der Sammlung der Hamburger Kunsthalle beschlagnahmt wurde, später in einem US-amerikanischen Museum auf? Solchen Fragen geht Lynn Rother nach, seit November 2019 hält sie die erste dauerhaft eingerichtete Universitätsprofessur zu Provenienzstudien in Deutschland. Ihr Projekt an der Leuphana Universität Lüneburg klingt so wegweisend wie erfolgversprechend: Computergestützte Methoden sollen Raubkunst aufspüren.

ZEIT ONLINE: Frau Rother, das Forschungsfeld der Data Science gibt es schon eine ganze Weile. Was genau ist an Ihrer Idee neu? 

Lynn Rother: Bisher wurden derartige computergestützte Methoden noch nicht für die Provenienzforschung genutzt. Vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten generierte man unheimlich viele Daten, die noch nie jemand museums- und sammlungsübergreifend ausgewertet hat. Das ist für den Menschen eine Wahnsinnsaufgabe, aber eben nicht für den Computer – wenn es um Tausende Werke mit Zehntausenden Eigentumswechseln geht.

ZEIT ONLINE: Warum hat vor Ihnen denn niemand all diese Daten für eine computerbasierte Analyse genutzt? 

Rother: Weil die Informationen, wie sie im Moment vorliegen, nicht maschinenlesbar sind. In Museumsdatenbanken finden sich zum Beispiel alle Herkunftsangaben zu einem Werk in einem Textfeld. Wenn Namen von Personen und Orten, Zeitangaben und die Art des Eigentumswechsels aber so erfasst sind, ist nicht einmal intelligentes Suchen innerhalb eines Museums möglich. Der Computer weiß außerdem nicht, dass "München" und "Munich" denselben Ort meinen. Derartige Daten wollen wir direkt mit sogenannten kontrollierten Vokabularien verlinken. Zum Teil fehlt da aber das provenienzspezifische Vokabular; es wird also auch um die Entwicklung einer Terminologie gehen. 

ZEIT ONLINE: Die vorhandenen digitalisierten Informationen sind also bisher nur für den Menschen verständlich? 

Rother: Genau. Wenn wir von uneinheitlichen und unstrukturierten Daten sprechen, nennt man das messy data. Gerade in der Provenienzforschung hat man außerdem viel mit ungenauen Angaben, sogenannter fuzzy data, zu tun. Da steht dann etwa: "Das Werk ist an einem Sommertag zwischen 1958 und 1960 von meinem Vater angekauft worden." Ein Mensch kann damit etwas anfangen, aber keine Maschine. Data Science ist mit solch ungenauen Angaben überfordert.

ZEIT ONLINE: Wie gehen Sie am Beispiel dieses Sommertags vor – legen Sie zur Analyse einen Mittelwert fest?

Rother: Nein, gerade in der Provenienzforschung ist die Dokumentation ganz wichtig. Man muss die Ungenauigkeit festhalten, das aber mithilfe eines standardisierten Formats. Unser Ziel ist es, eine Datenstruktur und Standards zu erschaffen, die von bestehenden Systemen und Projekten adaptiert und genutzt werden können.

ZEIT ONLINE: Welche Probleme könnten auftauchen? 

Rother: Meine größte Angst ist, dass wir zu viele Daten mit zu großen Lücken vorfinden. Wenn etwa der Verbleib eines Werks zwischen 1920 und 1958 unklar ist, kann diese Lücke möglicherweise nicht einmal durch gezielte Recherche in Katalogen und Archiven geschlossen werden – zumindest nicht für Hunderte von Werken.

ZEIT ONLINE: In Ausnahmefällen würden Sie aber mal zu einem Archiv nach Paris oder Chicago fliegen?

Rother: Ja, um Hinweisen etwa in Nachlässen von Kunstsammlerinnen und Händlern nachzugehen. Manchmal ist ein Bestand nicht erschlossen, dann müssen wir Kiste für Kiste durchsehen. Es kann auch hilfreich sein, in Einzelfällen die Museen darum zu bitten, die Labels und Etiketten auf der Rückseite der Werke noch einmal gründlich anzuschauen. Manchmal finden sich dabei bisher unidentifizierte Provenienzmerkmale.

ZEIT ONLINE: Das klingt, als könnten sich auch engagierte Privatpersonen auf die Suche nach der Herkunft von Gemälden begeben. 

Rother: Privatpersonen können ihre Objekte auf der Website LostArt.de einer Erstprüfung unterziehen. Sie ist frei zugänglich und einfach bedienbar. Aber für weitergehende Recherchen würde ich immer dazu raten, einen Experten zu beauftragen.

ZEIT ONLINE: Nach so vielen Jahrzehnten scheint es nach wie vor an Grundlagen zu fehlen, um unrechtmäßig entzogene Kunstwerke überhaupt zu identifizieren. Wird Ihr Projekt das ändern?

Rother: Das hoffe ich. Unrechtskontexte wie auch die Kunstmarktforschung wurden innerhalb der Kunstgeschichte lange vernachlässigt. Ich hoffe auf neue Erkenntnisse zur Verbreitung von Kunstwerken und möchte so die Provenienzforschung deutlich effizienter machen. 

ZEIT ONLINE: Ihr Fokus liegt dabei in den kommenden fünf Jahren auf europäischen Gemälden in amerikanischen Museen. Warum?

Rother: Es geht um Werkbiografien von impressionistischen, post-impressionistischen und modernen Gemälden im Zeitraum von etwa 1890 bis 1960. Die amerikanischen Museen haben schon sehr früh, Anfang der Nullerjahre, Provenienzinformationen systematisch online gestellt – anders als europäische Museen. Außerdem sind Sammler und Händler insbesondere für den Impressionismus und die klassische Moderne gut erforscht. Deswegen bietet sich dieser Fokus an, um die neue Methode zu testen. Schließlich kann unser Team nicht jedes einzelne Werk und jede Person von Grund auf erforschen; es muss auch mit schon existierenden Daten arbeiten. 

ZEIT ONLINE: Sie werden ermitteln, welche Rolle etwa politische Konflikte bei der Verbreitung europäischer Gemälde gespielt haben. Waren sie damals besonders begehrt?

Rother: Das ist eine spannende Frage. Es handelte sich um zeitgenössische Kunst, mitunter umstrittene Werke, die dennoch ihren Weg in Museen und private Sammlungen gefunden haben. Das war zu dieser Zeit nicht selbstverständlich: Der deutsche Expressionismus etwa löste in den frühen Dreißigerjahren keineswegs durchgehend Begeisterung in den USA aus.

ZEIT ONLINE: Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich durch Ihre Herangehensweise? Sie sagen ja selbst, Impressionismus und Moderne seien bereits gut erforscht.

Rother: Beispielsweise erzählt sich die Verbreitung von moderner Kunst meist aus New Yorker Perspektive, mit dem Museum of Modern Art und dem Guggenheim. Das erste Gemälde von Vincent Van Gogh aber wurde vom Detroit Institute of Arts bereits 1922 angekauft – als die New Yorker Museen noch gar nicht existierten. Für solche herausgehobenen Einzelfälle ist das bekannt, eine computergestützte Herangehensweise erlaubt es jedoch, auf breiter Basis Schlüsselfiguren und Werke ebenso wie absolut untypische Vertreter und Verbreitungswege zu identifizieren. Das ist ein Vorteil dieses Forschungsprojekts: Datenbasierte Herangehensweisen sind oft weniger voreingenommen, weil man nicht per se versucht, eine Anfangshypothese zu belegen.

https://www.zeit.de/kultur/kunst/2020-02/raubkunst-nationalsozialismus-data-science-lynn-rother
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