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Jenseits von Byzanz - Beyond Byzantium

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Frankfurter Allgemeine Zeitung 29 November 2018
Andreas Kilb

Auch zwanzig Jahre nach der Washingtoner Erklärung zur Rückgabe von Raubkunst aus jüdischem Besitz ist kein Ende der Wiedergutmachung abzusehen. Eine Konferenz in Berlin skizzierte, was noch zu tun bleibt.

An einem Mittwochmorgen elf Wochen nach ihrer Eröffnung ist die Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ im Berliner Gropiusbau überfüllt. Besucher drängen sich in den Sälen im zweiten Stock des Gebäudes, um einen Blick auf die dicht gehängten Bilder der Sammlung von Cornelius Gurlitt und die Dokumente zum Leben seines Vaters Hildebrand zu betrachten. Jedes Gemälde ist mit einer Erklärungstafel zu seiner Provenienz versehen; zwei Drittel der Tafeln teilen mit, die Erwerbungsgeschichte sei vorläufig unklar, bei einem Zehntel ist sie „in Abklärung“, bei einem weiteren Zehntel restlos geklärt. Und dann gibt es die Werke, auf die der Schatten des nationalsozialistischen Kulturraubs fällt: eine „Waterloo Bridge“ von Monet mit zweifelhafter Herkunft oder das Foto einer Menzel-Zeichnung, die inzwischen restituiert wurde. Sie sind der eigentliche Anlass der Ausstellung, die ein Stück Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt – nur diesmal nicht als Geschichte von Kriegen. Sondern als eine der Kunst.

Als die Öffentlichkeit 2013 von der Existenz der Sammlung Gurlitt erfuhr, war die Washingtoner Erklärung zur Aufdeckung und Rückgabe von Raubkunst aus jüdischem Besitz fünfzehn Jahre alt. Inzwischen sind weitere fünf Jahre vergangen, aber ein Ende des Prozesses, der in Washington begonnen hat, ist nicht abzusehen. Noch immer gelten hunderttausend von ungefähr sechshunderttausend Kunstwerken, die im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik den Besitzer wechselten, als „vermisst“, wie Stuart Eizenstat, der Initiator der Washingtoner Erklärung, bei einer Konferenz zum zwanzigsten Jahrestag ihrer Verabschiedung im Berliner Haus der Kulturen der Welt sagte. Und zu den unbekannten kommen die bekannten Fälle, die auf ihre Entscheidung warten, in Deutschland, aber auch in Ländern wie Polen, Ungarn, Russland und Spanien, die die Erklärung unterzeichnet haben, ohne ihre Prinzipien juristisch umzusetzen.

Die „Washington Principles on Nazi-Confiscated Art“, wie sie im Original heißen, sind kein Vertrag, sondern eine Aufgabenliste und ein moralischer Appell. In Deutschland verfängt sich dieser Appell in den Realitäten des Kulturföderalismus und der Gesetzeslage. Weil es anders als in Österreich kein Kunstrückgabegesetz gibt, muss jeder Streitfall zwischen Museen und Antragstellern einzeln ausgehandelt werden. Aber eine gesetzliche Regelung durch den Bund würde auch nur für eine Handvoll Museen in Bundesbesitz gelten. Alle anderen etwa fünftausend Museumssammlungen unterliegen der Rechtsprechung der Länder. Um ihnen bei der Rückgabeentscheidung auf die Sprünge zu helfen, gibt es die nach ihrer ersten Präsidentin benannte Limbach-Kommission, die von Antragstellern und Museen einvernehmlich angerufen werden kann.

Seit ihrer Gründung 2003 hat die Kommission nur fünfzehn Fälle behandelt, was weniger an der geringen Zahl strittiger Verfahren als an den bürokratischen Hürden liegt, welche die Erben jüdischer Kunstbesitzer bei der Anrufung nehmen müssen. In ihrer Begrüßungsrede zu der Berliner Konferenz hat Kulturstaatsministerin Monika Grütters jetzt angekündigt, dass die Limbach-Kommission ab 2019 auch auf Antrag der Erben allein tätig werden soll. Das ist ein wichtiger Sprung nach vorn in der Geschichte des Gremiums, aber auch der erste Schritt zu seiner Verwandlung in eine behördliche Institution, die zur Behandlung einer vervielfachten Zahl von Fällen ein von Bund und Ländern abgesegnetes Regelwerk brauchen wird.

Der Kulturföderalismus war der Elefant im Raum bei der Berliner Jubiläumskonferenz. Man konnte ihn in den Bauch boxen wie Ronald Lauder, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, der die „byzantinische Bürokratie“ anprangerte, welche die wohlmeinenden Pläne der Kulturstaatsministerin immer wieder ausbremse oder blockiere. Man konnte ihn aber auch ironisch bloßstellen wie der Wiener Historiker Leonhard Weidinger, der während seines Vortrags die Provenienzforscher im Auditorium bat, sich zu erheben. Etwa hundertfünfzig Frauen und Männer standen auf. Dann bat Weidinger jene, die eine feste Stelle hätten, sich wieder zu setzen. Fast alle blieben stehen. Dauerstellen für Wissenschaftler an Landes- und Stadtmuseen fallen in die Zuständigkeit der Länder, der Bund kann nur Projektmittel für temporär Beschäftigte vergeben. Insofern ist die kleckerhaft betriebene Provenienzforschung tatsächlich eine kulturföderalistische Malaise: Sie nimmt den Museen die Möglichkeit, ihre Bestände „so rasch wie möglich“, wie man in Washington gelobt hat, historisch zu erschließen. Der Bund könnte hier Abhilfe schaffen, indem er eine Zentralstelle mit festen Kräften einrichtet, die dann an die Ländermuseen ausgeliehen werden können. Aber auch dafür bräuchte er die Zustimmung der Bundesländer. Ein Stück Byzanz steckt eben doch in Berlin, auch das ein Erbe deutscher Geschichte, deren mächtigster Kulturzentralist Joseph Goebbels hieß.

Was in den Mühlen der Restitutions-Bürokratie zerrieben wird, sind keine Akten, sondern Schicksale: Familiengeschichten, deren letzte sichtbare Zeugnisse oft in jenen Artefakten bestehen, welche einige Museen so ungern hergeben. Von ihnen war die Rede in einer Sektion, die zu den wichtigsten der Konferenz gehörte, weil sie das Prinzip der „fairen und gerechten Lösung“ lebensweltlich ausbuchstabierte. Die Lüneburger Sammlung Heinemann, der Kunstbesitz von Rudolf Mosse in den Staatlichen Museen, das Kinderbuch eines Holocaust-Überlebenden, die Almanachsammlung Arthur Goldschmidts in Weimar, der Nachlass des Kunsthändlers Siegfried Lämmle – sie alle gingen zurück an die Besitzer oder ihre Erben, und manchmal, wie in Lüneburg, brachte ihre Rückgabe jene Versöhnung der Vertriebenen mit den Vertreibern zustande, die in Washington stillschweigend mitgedacht wurde. Allerdings fällt auf, dass der Streitwert solcher Idealfälle, von der Mosse-Restitution abgesehen, in der Regel gering ist. Das Museum in Lüneburg hätte auch ohne die Heinemann-Sammlung überlebt. Zum Glück durfte es sie als Leihgabe behalten.

Der zweite real existierende Byzantinismus beim Thema Kunstraub ist die fehlende Vernetzung der wissenschaftlichen Forschung in Europa und Amerika. Zwar gibt es viele verdienstvolle Einzelbeispiele wie das Provenienz-Portal des Metropolitan Museum in New York oder die Digitalisierungs-Initiative der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die demnächst ihre Inventarbücher aus der Zeit des Nationalsozialismus online stellen werden, aber als Ganzes gleicht die Museumslandschaft im Internet einem lückenhaften Puzzle, dessen vorhandene Teile zudem nicht ineinanderpassen. Es war ausgerechnet der Brite Tony Baumgartner, der in einer der Diskussionsrunden eine europäische Lösung für die Erfassung der Museumsbestände forderte. Ob die Idee den Brexit überlebt? In Deutschland jedenfalls prallt auch die Digitalisierung auf den Boden des Föderalismus, weil jedes Land bei der Verteilung der Mittel seine eigenen Prioritäten setzt.

Auch Wiedergutmachung ist ein Produkt der Zeitgeschichte. Das Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg, das die Berliner Tagung veranstaltete, wurde als Reaktion auf den Fund der Gurlitt-Sammlung 2015 gegründet. Jetzt wäre die Gelegenheit, die Magdeburger Behörde zur zentralen Koordinationsstelle der Provenienzforschung und der daraus folgenden Restitutionen in Deutschland zu machen. Die Sisyphusarbeit, die diese Behörde zu leisten hat, muss sie nicht lange suchen. Sie liegt vor ihrer Tür.

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