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Von Nazis geraubte Hertie-Bibliothek wird erforscht - Hertie library stolen by the Nazis investigated

1998
1970
1945
Lausitzer Rundschau 27 january 2017
Von Miriam Schönbach

500 Bücher der jüdischen Unternehmerfamilie Tietz 2016 in Bautzen entdeckt / Deutsches Zentrum Kulturgutverluste unterstützt Projekt

Bautzen Mit einem kleinen Warenhaus in Gera begann die Erfolgsgeschichte der jüdischen Warenhaus-Dynastie Tietz (Hertie), die später von den Nationalsozialisten um ihr Eigentum gebracht wurde. Ein Teil der Privatbibliothek ist nach Jahrzehnten in Bautzen wiederentdeckt worden. Forscher wollen jetzt mehr über den Fund herausfinden.



Glücklich betrachtet June Jasen die Bücher im Koffer. Auf den ersten Blick sind es nur ein paar alte Schmöker. Für die Amerikanerin ist es ein Stück Familiengeschichte. Das Konvolut in einem alten Pappschalenkoffer hat ihr Robert Langer nach Berlin gebracht. Im vergangenen Jahr war der Wissenschaftler bei seinen Recherchen zu NS-Raubgut in der Stadtbibliothek Bautzen auf knapp 500 bisher verschollen geglaubte Bücher der jüdischen Unternehmerfamilie Edith und Georg Tietz aus Berlin gestoßen (die RUNDSCHAU berichtete). Und nun blättert deren Enkeltochter in den Schätzen, die sich einst die Nationalsozialisten unrechtmäßig aneigneten.

 

Entdeckung erregte Aufsehen

Mithilfe des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste (DZK) soll die Geschichte des Zufallsfunds in der Bibliothek der sächsischen Kleinstadt nun aufgearbeitet werden. Im vergangenen Jahr hatte diese Entdeckung Aufsehen erregt. Edith und Georg Tietz waren Teil der Familie, der die Warenhauskette Hertie gehörte.

Ihr Vorfahre Oscar Tietz gründete 1882 in Gera ein kleines Warenhaus, das sich auf den Massenverkauf von Artikeln des täglichen Bedarfs spezialisierte. Dessen Onkel Hermann Tietz wurde der Namensgeber der wachsenden Kaufhauskette. Die zweite Generation entwickelte das Unternehmen in den 1920er-Jahren zum größten europäischen Warenhauskonzern. Dazu gehörte etwa das Berliner KaDeWe. 13 000 Angestellte arbeiteten für die Familie Tietz.

Die Weltwirtschaftskrise und der Nazi-Terror stoppten die Erfolgsgeschichte. Die Brüder Georg und Martin Tietz und deren Schwager Hugo Zwillenberg wurden 1934 aus dem Unternehmen gedrängt. Die Emigration nach Liechtenstein rettete sie, aber nicht ihren Besitz. Er wurde beschlagnahmt und verkauft. Die Privatbibliothek mit 4500 Bänden, darunter limitierte kunsthistorische Drucke und seltene Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, landete bei der Reichstauschstelle.

Diese Abteilung des Innenministeriums kümmerte sich um die Verwertung von Büchern, die zwischen 1933 und 1945 von den Nazis erbeutet wurden. "Die Tietz-Bibliothek war für die Stadtbibliothek Leipzig bestimmt, um so spannender ist es nun herauszufinden, warum die Sammlung ausgerechnet nach Bautzen kam", sagt Uwe Hartmann, Leiter der DZK-Provenienzforschung. Im Frühjahr sollen die Forschungen losgehen.

Das neue Projekt ist noch aus einer weiteren Sicht interessant. "Es gibt in Deutschland noch Tausende Bibliotheken wie das Bautzener Haus mit ähnlichen Verdachtsmomenten", sagt Hartmann. Deshalb unterstützt das DZK in Sachsen-Anhalt das sogenannte "Erstcheck-Projekt" in den öffentlichen Bibliotheken Magdeburgs, Wernigerodes, Dessaus, Sangerhausens sowie in Zerbst. Partner ist der Landesverband Sachsen-Anhalt im Deutschen Bibliotheksverband. Ab 1. Juni wird ein Provenienzforscher die historischen Bestände nach auffälligen Büchern und Schriften überprüfen.

Die Suche geht weiter

Ein erfahrener Provenienzforscher ist auch Robert Langer in Bautzen. NS-Raubgut lässt sich meist nicht auf den ersten Blick identifizieren. Im Fall der Sammlung von Edith und Georg Tietz half ihm ein Namensstempel in einer kleinen "Hebräischen Lesefibel". Er lautete "Hans Herrmann Tietz – Berlin-Grunewald – Königsallee 77". Das Signet ließ Langer aufhorchen. Die Fibel konnte kein Buch sein, das den Nationalsozialismus im Haus überdauert hatte. Denn sämtliche Bücher mit jüdischen Themen waren in der NS-Zeit aussortiert worden.

Die Recherchen des promovierten Philosophen führten ihn auf das Gut Drehsa (Kreis Bautzen). In dieses Außenlager der Reichstauschstelle soll die Privatbibliothek einst gebracht worden sein. Bisher ging man davon aus, dass dann nach Kriegsende Soldaten der Roten Armee die 30 Bücherkisten in die damalige Sowjetunion mitnahmen.

Langer will mit Start des DZK-Projekts die einst vorhandene Liste der Bücher suchen. Auch der Altbestand in der Bautzener Bibliothek wird weiter nach Büchern der Großeltern von June Jasen durchkämmt. Die Künstlerin ist nach dem Treffen mit dem Bautzener Wissenschaftler in die USA zurückgeflogen. Ihre Mutter Rösli – Tochter von Edith und Georg Tietz – lebt noch in New York, auch Nachfahren von Hans Herrmann – dem Jungen mit der hebräischen Lesefibel – gibt es noch. Die Tietz-Erben kamen 1949 kurz zurück nach Deutschland, um die Rückgabe des Warenhaus-Vermögens zu beantragen. "Bei unserem Treffen erzählte June Jasen, dass die Familie nach dem Krieg nicht mehr an die Büchersammlung gedacht habe. Man sei nur froh gewesen, überlebt zu haben", sagt Langer.

Nach dem Willen dieser Erbin soll der Fund größtenteils auch in Bautzen bleiben. Im Bibliothekskatalog wird die Herkunft der Bücher aber bald zu erkennen sein. Dort steht dann der Hinweis: Sammlung Edith und Georg Tietz.


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