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Moralisches Signal vom Musterschüler - Moral signals from the model student

1998
1970
1945
Neue Zürcher Zeitung 21 October 2014
Von Joachim Güntner

Deutschland will ein Musterschüler in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bleiben. Nach einem Treffen führender Politiker in Essen haben Bund, Länder und Kommunen kürzlich die Einrichtung eines «Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste» beschlossen. Niemand bestreitet Deutschland seine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte, bisweilen aber zeigt sich, dass das verbrecherische Erbe des Hitlerstaates aus den Poren der Bundesrepublik noch nicht völlig ausgeschwitzt ist. Dachte die deutsche Öffentlichkeit nicht schon in den sechziger Jahren, «Wiedergutmachung» – ein dummes Wort – für NS-Geschädigte sei hinreichend geleistet worden?

Das traf und trifft bis heute weder für die Opfer des NS-Euthanasie-Programms noch für viele Zwangsarbeiter und deren unbefriedigte Ansprüche zu. Seit einiger Zeit erweist sich, dass auch die NS-Raubkunst einen langen Schatten wirft. Zwar trat Deutschland der «Washingtoner Erklärung» von 1998 bei, worin sich mehr als vierzig Unterzeichnerstaaten verpflichteten, in Museen und Archiven nach NS-Raubkunst zu suchen und mit den Erben faire Lösungen auszuhandeln. Jedoch dauerte es noch Jahre, bis die Provenienzforschung Tritt fasste. Bis heute ist es den einzelnen Kunsthäusern überlassen, ob und wie sie die eigenen Bestände auf problematischen Besitz hin durchmustern. Zwei Drittel von ihnen haben damit noch gar nicht angefangen. Und gerade einmal zehn Prozent der Einrichtungen der öffentlichen Hand (private Sammlungen betrifft die «Washingtoner Erklärung» nicht) betreiben eine umfassende Prüfung ihres Kunstbesitzes.

Die deutsche Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat sich nach dem Essener Beschluss weit aus dem Fenster gelehnt. Das geplante und von einer staatlichen Stiftung zu tragende Zentrum sei ein «wichtiger Meilenstein» in der Geschichte der Aufklärung des nationalsozialistischen Kunstraubs, sagte sie. Es sei schlicht unerträglich, «dass fast siebzig Jahre nach dem Sieg über den Naziterror immer noch Naziraubkunst in deutschen Museen lagert. Mit dem Zentrum setzen wir ein unübersehbares Zeichen, ein moralisches Signal, das gerade auch auf jene Opferbiografien verweist, die sich in der Geschichte geraubter Kunst widerspiegeln.»

Fragt sich nur, was daraus praktisch folgt. Zunächst einmal passiert wenig mehr, als dass zwei bereits bestehende Einrichtungen unter einem Dach vereint werden: die Koordinierungsstelle Magdeburg und die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche in Berlin. Die Magdeburger betreiben eine Datenbank nebst Website für «Lost Art», die Berliner erteilen Museen fachlichen Rat, wie man die Herkunft von Kunstwerken recherchiert, und entscheiden über Anträge auf Forschungsmittel. In dem geplanten Zentrum kommen folglich eine Datensammel- und eine Geldverteilungsmaschine zusammen. Die konkrete Suche nach Raubkunst verbleibt bei den Museen, Bibliotheken und Archiven. Es wäre auch unsinnig, wollte das Zentrum selber Forschungseinrichtung sein.

Mehr Geld und mehr Personal stellt der deutsche Staat künftig ebenfalls zur Verfügung. Das wird helfen, die Beratungstätigkeit auszuweiten, desgleichen die Öffentlichkeitsarbeit, die bis anhin ein Bild des Jammers bot. Wie steht es um die Publikation der Recherchen in den Museen, wie um die Nachprüfbarkeit der Ergebnisse? Die Forschungslandschaft liegt nach wie vor im Halbdunkel, Ähnliches gilt für die Restitutionen. Über die bisher erfolgten Rückgaben von Raubkunst kursieren abenteuerliche Zahlen, weil einmal die Fälle, ein andermal die Objekte gezählt werden. So hat etwa, wie der Kunstraub-Spezialist Stefan Koldehoff kritisiert, die Koordinierungsstelle Magdeburg die Rückgabe der Plakatsammlung des jüdischen Chemikers Hans Josef Sachs nicht als einen Fall, sondern als 4200 Restitutionen gezählt. Kulturstaatsministerin Grütters träumt von einer Stiftungsprofessur, um die Provenienzforschung an den Universitäten stärker zu etablieren. Alles gut und richtig, doch wäre es peinlich, diente das Zentrum für Kulturgutverluste vorrangig dazu, den Wissenschaftsbetrieb zu mästen. Das «moralische Signal», das Grütters hervorkehrt, wird glaubwürdig nur, wenn sich «Opferbiografien» nicht bloss in der Raubkunst-Geschichte «widerspiegeln», sondern wenn berechtigte Ansprüche von Geschädigten fair und zügig bearbeitet werden.

 

http://www.nzz.ch/feuilleton/moralisches-signal-vom-musterschueler-1.18407577
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