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«Erst am Mittwochmorgen war ich mir sicher, dass es kein Scherz ist» - "It wasn't until Wednesday morning that I was sure that it wasn't a joke"

1998
1970
1945
Der Bund 10 May 2014
Von Brigitta Niederhauser, Bernhard Ott

Warum das Gurlitt-Erbe den Berner Kunstmuseumsdirektor Matthias Frehner nicht zu Freudensprüngen hinreisst.


Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern und unverhoffter «Erbe».

Herr Frehner, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie letztes Jahr erstmals von der Sammlung Gurlitt erfuhren?
Die Sammlung war mir völlig unbekannt. Ich habe mich aber sehr dafür interessiert, weil von grossen Beständen von Hauptwerken der Klassischen Moderne die Rede war. Als man die ersten Bilder sah, hat sich das etwas relativiert. Es wurden ja wenige Gemälde und vor allem Arbeiten auf Papier gezeigt. Aber das Interesse blieb, weil man bisher ja nur einen kleinen Ausschnitt der Sammlung gesehen hat.

Wie haben Sie eigentlich von Ihrem Glück erfahren?
Ich war letzten Dienstagabend ausser Haus, als ein Notar anrief.

Am Montag ist Cornelius Gurlitt gestorben, und am Dienstag erhielten Sie bereits einen Anruf?
Ja. Erst am Mittwochmorgen war ich mir sicher, dass es kein Scherz ist.

Was wurde Ihnen mitgeteilt?
Dass das Kunstmuseum Alleinerbe ist.

Haben Sie sich nicht gefreut über die Nachricht?
Es war keine grosse Freude, ja, ich bin erschrocken. Mir war vollkommen klar, dass die Entgegennahme dieser Sammlung mit extrem vielen Hindernissen und Problemen verbunden ist. Es kann gut sein, dass wir diese Sammlung nicht entgegennehmen können.

Wie haben eigentlich Ihre Kollegen, die Museumsdirektoren, reagiert?
«Wahnsinn, was da auf dich zukommt», sagten die meisten. Und kein Einziger war neidisch. Viele fanden es gut, dass die Werke in die Schweiz kommen sollen, aber jeder Museumsdirektor weiss, was damit verbunden ist. Und diese Aufgabe will keiner.

Hat dieses unverhoffte Erbe nicht Ihre Fantasie geweckt? Das Kunstmuseum könnte ja zum Beispiel die Klassische Moderne als Standbein ausbauen und andere Werke verkaufen? Man könnte wieder an einen Anbau denken.
Die Fantasie ist im Moment nicht mein Problem. Aufgrund meiner früheren Recherchen zur Raubkunst war mir von Anfang an bewusst, dass zuerst ein Berg von Problemen gelöst werden muss.

Ist Ihre Beklemmung gegenüber der Sammlung auch auf den fragwürdigen Umgang der Schweiz mit Raubkunst während und nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen?
Ich weiss, was da alles dahintersteckt und was man für eine Verantwortung übernimmt. Die Schweiz hat aber bezüglich der Raubkunst vorbildlich über die Historikerkommission reagiert. Im Bericht über Raubkunst von Esther Tisa an Georg Kreis ist sehr vieles grundsätzlich aufgearbeitet worden. Es waren lange nicht so viele Fälle gewesen, wie man der Schweiz vorgeworfen hat, und man sieht ganz genau, wer wo involviert war und wie die Abläufe gewesen sind. Da wird aufgezeigt, was unter welchen Umständen in der NS-Zeit passiert ist – und zwar auf einer Faktenebene, ohne moralische Bewertung. Da kann man auch nachlesen, was ein Hildebrand Gurlitt gemacht hat.

Dann hat also die Schweiz in Sachen Raubkunst ihre Schuldigkeit getan?
Das kann man nie abschliessend sagen, weil es immer eine kleine Menge von Unerkanntem gibt. Aber wir haben genau hingeschaut. 95 oder noch mehr Prozent der Fakten liegen auf dem Tisch.

Sie haben über Raubkunst publiziert. Haben Sie damit gerechnet, dass es nach wie vor derart grosse unbekannte Bestände gibt, die auch Raubkunst enthalten könnten?
Seit der Raubkunst-Debatte in den Neunzigerjahren wird darüber spekuliert, ob es noch grosse Konvolute unbekannter Raubkunst gibt. In der Folge dieser Debatte kam ja die Provenienzforschung erst richtig in Gang. Die Schweizer Museen haben sehr früh ihre Bestände überprüft.

Auch das Kunstmuseum Bern?
Ich bin erst seit 2002 im Amt. Das Kunstmuseum Bern fing früh damit an. Es war ja nach dem Zweiten Weltkrieg Anlaufstelle für Raubkunst in der Schweiz. Im Land aufgefundene Bilder wurden hier verwahrt. Ich erhielt damals als Kunstredaktor der NZZ als Erster Einblick in die entsprechenden Akten und konnte darüber publizieren. Der amerikanische Kunstschutz-Offizier Douglas Cooper hatte bereits 1944 Recherchen in der Schweiz getätigt. Er hat eine Liste von Raubkunst-Werken erstellt, von denen er wusste, dass sie in der Schweiz verkauft worden sind. Es kam zur Rückgabe von 75 Werken, die im Kunstmuseum Bern zwischengelagert und von hier aus zurückgeschickt wurden. Provenienzforschung in den Museen selber war damals noch kein Thema. Zum Teil kamen nach dem Krieg Werke durch Schenkungen oder Erwerbungen in Schweizer Museen, bei denen man im Nachhinein feststellen musste, dass es sich um Raubkunst handelt.

Ist Ihnen damals der Name Hildebrand Gurlitt begegnet?
Natürlich. Wer sich mit Raubkunst beschäftigt, stösst auf diesen Namen und zwei, drei weitere Namen von Kunsthändlern, die sich ebenfalls mit dem Verkauf sogenannter entarteter Kunst ins Ausland beschäftigt haben. Diese sind aber eher positiv konnotiert, weil sie im Auftrag der Nazis «entartete Kunst» ins Ausland verkauft und damit auch gerettet haben. Im Jahr 1939 hat die Luzerner Galerie Fischer 125 Bilder aus deutschen Museen, «entartete Kunst», versteigert. Das Kunstmuseum Basel hat damals ein grosses Konvolut erworben. Wir haben auch ein Bild als Schenkung und eine Skulptur aus dieser Auktion erhalten. Bestände, die nicht verkauft wurden, sind von den Nazis zerstört worden.

Hildebrand Gurlitt starb 1956 bei einem Autounfall. Warum hat sich der deutsche Staat damals nicht für die Sammlung interessiert?
Raubkunst war damals kein Thema, und das galt bis in die Neunzigerjahre. Niemand fragte nach Provenienzen, alles war handelbar.

Seitens von Erben der Opfer wurde nichts mehr geltend gemacht?
In einer ersten Phase nach 1945 gab es sehr viele Restitutionen. Nach Ablauf der entsprechenden Fristen war ein Schlussstrich gezogen worden, alle Rückgabeforderungen waren blockiert. Erst nach der Wende 1989 kam die Diskussion wieder in Gang, Liegenschaften konnten restituiert werden und bald auch wieder Kunstwerke.

Hildebrand Gurlitt hinterliess bei seinem Tod etwas mehr als hundert Bilder. Der jetzt vorgefundene Schatz umfasst aber weit über 1000 Objekte. Wie erklären Sie sich das?
Ich weiss so viel wie Sie. Es ist sehr positiv, dass Cornelius Gurlitt noch vor seinem Tod die nötigen Recherchen in Auftrag gegeben hat.

Es wäre ja auch möglich, dass vom Rest der Sammlung Hildebrand Gurlitt nicht alles bei der Bombardierung von Dresden verbrannt ist, wie dessen Ehefrau behauptet hat?
Wir werden alle Möglichkeiten überprüfen müssen. Wenn die Bilder zu uns kommen, muss die Provenienz lückenlos geklärt sein. Wir können nicht Werke aufnehmen, die mit einem Verdacht behaftet sind. Dazu werde ich nicht Hand bieten.

Man bekommt den Eindruck, dass Sie unter der grossen Bürde dieses Erbes leiden, Begeisterung ist keine zu spüren.
Es ist eine enorme Herausforderung. Aber wenn es uns gelingt, die Probleme zu lösen, dann tragen wir dazu bei, dass Gerechtigkeit geschieht, und da involviert zu sein, ist grossartig. Positiv ist auch, dass wir dann die unbelasteten Werke zeigen könnten, für die ein grosses Interesse besteht. Aber es ist eine extrem schwierige Situation, weil so viele Vorbehalte und Misstrauen gegenüber dieser Sammlung vorhanden sind. Wir werden in diesem Prozess, der nun anläuft, sehr genau beobachtet und können uns keine Fehler leisten.

Könnte sich dieses Gefühl der Last ändern, wenn Sie nächste Woche nach München reisen und Einblick in die Sammlung bekommen?
Das ist durchaus möglich, denn sich für Kunstwerke einzusetzen, ist ein lohnendes Unterfangen.

Sie dürfen als einer der Ersten Einblick in die Schatzkammer nehmen? Ist das nicht aufregend für einen Kunsthistoriker, nicht fast vergleichbar mit der Erstbesichtigung der Grabkammer von Tutenchamun?
Das ist sicher ein grosser Augenblick.

Was machen Sie in München genau?
Darauf kann ich keine Antwort geben. Wir werden uns die Sammlung zeigen lassen und Fakten für den Entscheid des Stiftungsrates sammeln.

Wie gross ist diese Taskforce, die in Deutschland auf die Sammlung angesetzt wurde?
Das weiss ich noch nicht, ich war ja bis vor drei Tagen ein Aussenstehender und habe die Sache über die Medien verfolgt. Ich bin kein Gurlitt-Spezialist.

Werden Sie die Öffentlichkeit nach der Reise nach München über erste Eindrücke und Erkenntnisse informieren?
Wir haben uns entschieden, vorerst nicht mehr zu informieren, sondern erst, wenn wir weiter sind und der Stiftungsrat Entscheidungen gefällt hat.

Wann denken Sie, dass es so weit ist?
Dazu kann ich heute noch keine Angaben machen.

Werden Sie dem Stiftungsrat einen Antrag stellen, ob man die Sammlung aufnehmen soll oder nicht?
Es geht nicht um einen Antrag, sondern um das Sammeln und die Analyse von Fakten als Entscheidungsgrundlage.

Das muss innerhalb von sechs Monaten geschehen. Von Sommerferien kann für Sie keine Rede sein?
Dem könnte so sein.

Ist das Kunstmuseum Bern personell überhaupt in der Lage, den Bestand abzuklären?
Es kann nicht sein, dass die Arbeiten an der Sammlung Gurlitt mit unserem Personal gemacht werden. Das ist vollkommen unmöglich. Wir können dafür auch nicht Subventionsgelder einsetzen.

Nebst Geldnot leidet das Kunstmuseum auch unter Platznot. Wäre es technisch überhaupt möglich, die Bilder in Bern auszustellen?
Bei einem Grossteil der Bilder, die man bisher gesehen hat, handelt es sich ja nicht um absolute Meisterwerke. Es sind Grafiken des Expressionismus. Die Frage ist, wie viele Werke der Klassischen Moderne es gibt. Ich gehe nicht davon aus, dass es um eine dreistellige Anzahl von Werken geht. Zudem sind das meist nicht allzu grosse Bilder, die können wir schon unterbringen.

Wie gross sind die Bestände des Kunstmuseums zurzeit?
Wir haben etwas über 6000 Gemälde und Skulpturen sowie über 60'000 Arbeiten auf Papier. In der permanenten Sammlung können wir 200 bis 300 Werke zeigen.

Im Museum stehen zurzeit viele andere Aufgaben an: Fusion mit dem Zentrum Paul Klee, Aufbau der Abteilung für Gegenwartskunst.
Wir machen keine Fusion mit dem Zentrum Paul Klee. Die beiden Institutionen behalten ihre Identität und werden von einer Dachstiftung geführt. Natürlich gibt es viele Aufgaben in unserem Haus und verhältnismässig wenig Personal.

Wird die Leitung des Zentrums Paul Klee einbezogen?
Auf strategischer Ebene sicher nicht, noch steht die Dachstiftung für die beiden Institutionen nicht, aber Peter Fischer und ich arbeiten sehr eng zusammen, und ich werde das Erbe Gurlitt sicher mit ihm diskutieren.

Peter Fischer, Direktor des Zentrums Paul Klee, liess verlauten, dass Gurlitts Entscheid mit Paul Klee zusammenhängen könnte, dessen Nachlass zu einem grossen Teil dem Kunstmuseum vermacht wurde.
Auch darüber kann nur spekuliert werden, aber es wäre natürlich sehr schön, wenn in der Sammlung Gurlitt auch ein paar Klee-Bilder auftauchen würden.

Damit der Klee-Bestand im Kunstmuseum wieder aufgestockt werden könnte, das den Nachlass ans Klee-Zentrum abtreten musste?
No comment.

Was bedeutet es für die geplante Abteilung Gegenwart, wenn Sie das Erbe annehmen? Rückt deren Realisierung dann in den Hintergrund? 
Das steht für mich ausser Frage. Gegenwartskunst ist der lebendigste Teil eines Museums. Sie nimmt ja die existenziellen Fragen der Gesellschaft auf. Es kann nicht sein, dass wir uns zum Beispiel aufgrund eines grossen Zuwachses an Werken der Klassischen Moderne entscheiden würden, dass wir jetzt ein Museum sind, das sich nur noch mit Aspekten der Vergangenheit beschäftigt und sich nicht mehr weiterentwickelt. Für mich als Museumsdirektor wäre ein solches Szenario undenkbar. Aber wir würden sicher Wege finden, die Hauptwerke aus der Sammlung in unsere Bestände zu integrieren. Dann hängen wir die Bilder anders und wechseln häufiger die Sammlungspräsentation. Diese Fantasien haben wir schon. Sehr viel von der Gurlitt-Sammlung würde möglicherweise ins Depot gehen, zum Beispiel die Druckgrafiken, die man ja auch nicht permanent ausstellen kann. Sowie die Werke, die auf der B-Ebene liegen und nicht so interessant sind, die man aber hervorholt für eine Ausstellung mit einer spezifischen Fragestellung.

Werden Sie für die Entscheidung auch Experten des Bundesamtes für Kultur beiziehen?
Kurz bevor ich von der Schenkung erfahren habe, war ich beim BAK an einem runden Tisch, an dem wir ein neues Internetportal für Raubkunst diskutiert haben. Nie im Leben wäre ich da auf die Idee gekommen, dass drei Stunden später so etwas wie die Sammlung Gurlitt auf mich zukommt. Ich bin im Bereich Raubkunst sehr vernetzt. Mit der Anlaufstelle für Raubkunst beim BAK werde ich mich sicher austauschen.

Welches wäre für Sie der glücklichste Ausgang in der Sache?
Wenn es möglich ist, die Erbschaft anzunehmen und auf alle offenen Fragen zur Raubkunst eine ethisch korrekte Antwort zu finden.

Und wenn das Worst-Case-Szenario eintreten würde und Sie ablehnen müssten, weil mehr als 500 Kunstwerke unter Raubkunst-Verdacht stünden: Wäre eine andere Institution in der Lage, dieses Erbe zu stemmen?
Nein. Oder sie wäre über Jahrzehnte damit beschäftigt.

Der 59-jährige Matthias Frehner ist in Winterthur geboren und aufgewachsen. Er studierte an der Universität Zürich Kunstgeschichte, Neuere deutsche Literatur und Archäologie, war wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter und promovierte 1990 mit der «Geschichte der Schweizer Eisenplastik». Von 1988 bis 1996 war er Konservator der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur und des Klostermuseums St. Georgen in Stein am Rhein. 

Ab 1996 wirkte er als Kunstredaktor der NZZ. Im August 2002 trat er sein Amt als Direktor des Kunstmuseums Bern an. Matthias Frehner ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er lebt in Muri.


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