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Eine traurige Wahrheit - A Sad Truth

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Die Welt 16 January 2014

Von Thomas Schmid

Der Fall Gurlitt zeigt, wie schwierig der richtige Umgang mit Raubkunst ist. Gerechtigkeit wird es kaum geben – auch wenn Bayern dies mit einem Gesetzentwurf versucht

Vor etwas mehr als 200 Jahren setzte Johann Peter Hebel den folgenden Merksatz ans Ende der Kalendergeschichte "Der Husar in Neiße": "Es gibt Untaten, über welche kein Gras wächst." In der Geschichte wird ein preußischer Soldat, der im Krieg mit Frankreich ein Verbrechen begangen hatte, 18 Jahre später von seiner Tat eingeholt. Die Geschichte endet nicht versöhnlich – doch der letzte Satz deutet das Walten einer universellen Gerechtigkeit an, an die wir nicht mehr glauben können. Es gibt Untaten, über welche kein Gras wächst. Schön wäre es. Über zahllose Untaten ist Gras gewachsen. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer wird es, unter dem dichten Gras die Untaten zu erkennen und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Schicksal der Kunstwerke, die in der NS-Zeit ihren Besitzern – Privatpersonen wie Museen – geraubt oder unter Druck abgekauft worden sind. Im November vergangenen Jahres wurde mit dem Fall Gurlitt die Raubkunst schlagartig zu einem öffentlichen Thema. Doch es hätte dieses Falles nicht bedurft, um hier Aufklärungs- und Handlungsbedarf zu erkennen. Denn es ist nie ein Geheimnis gewesen, dass im NS-Staat unliebsam gewordene Bürger, vor allem Juden, um ihren Besitz gebracht worden waren. Es hat nur – von den Staatsanwälten über die Politiker bis hinein in die Feuilletons – die längste Zeit kaum jemanden interessiert oder verstört.

Kunstmarkt und Museumsszene unterschieden sich hierin kein bisschen vom Rest der Gesellschaft. Viele derer, die in den Raub von Kunstwerken verwickelt gewesen waren, gehörten in der Nachkriegszeit bald an wichtigen Stellen dem Kulturbetrieb an. Gerade wenn sie mit "entarteter Kunst" zu tun gehabt hatten, war ihr Wissen über die Kunstwerke oft von Nutzen. Einige von ihnen verstanden es gut, sich nun sogar als Förderer einer künstlerischen Moderne mit moralischem Anspruch zu etablieren – ein Phänomen, das auch aus Geschichtswissenschaft, Politologie und Germanistik gut bekannt ist. Von Ausnahmen abgesehen war die Frage der Rückgabe – also der Rückgängigmachung eines Unrechts – auch für jene Museumsleute und Kunsthändler kein Thema, die erst nach der NS-Zeit in ihren Berufen tätig wurden. Es gab, wiederum von Ausnahmen abgesehen, keine Rückgabelobby. Niemanden schmerzte das Unrecht, über das Gras wuchs.

Wenn Raub und erpresste Verkäufe jetzt auf die Agenda kommen, folgt das einem beschämenden Gesetz, dem auch die Enthüllung von NSDAP- und Waffen-SS-Mitgliedschaften folgte: Die Dinge kommen erst dann auf den Tisch, wenn die Täter und die Verwickelten so alt sind, dass sie mitleiderregend wirken, und die Opfer fast alle schon tot sind oder kaum mehr fähig, öffentlich und juristisch zu agieren. Mit anderen Worten: wenn es zu spät ist. Wenn die Untaten am Tor der Historisierung und des Ablegens stehen.

Das ist schwer erträglich. Bayerns neuer Justizminister Winfried Bausback mag sich damit nicht abfinden, das ehrt ihn. Weil er, wie andere Politiker des Freistaats auch, vielleicht entschlossen ist, den einmal erkannten Missstand sehr konsequent zu bekämpfen, hat er einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Das geplante "Kulturgut-Rückgewähr-Gesetz" soll es ermöglichen, in der NS-Zeit entwendete Kunstwerke ihren einstigen Besitzern oder deren Nachkommen zurückzugeben. Dazu soll die Verjährungsfrist, die 30 Jahre dauert, aufgehoben werden. Bausback hat das bei der Vorstellung des Gesetzentwurfs eindringlich begründet. Wenn solche Kunstwerke, sagte er, nach langer Zeit auftauchen, die Opfer oder deren Erben sie identifizieren, wenn sie in einem langwierigen Prozess ihren Besitztitel nachweisen können – dann "kann die Gegenseite am Ende immer noch sagen: 'Tut mir leid, der Anspruch ist verjährt.' Das ist aus meiner Sicht unerträglich." In dem Gesetzentwurf heißt es: "Diese Rechtslage ist nur schwer erträglich, weil auf diese Weise durch den NS-Staat geschaffenes Unrecht auf Dauer perpetuiert wird." Stimmt.

Doch hat das Gesetz Aussicht auf nicht nur propagandistischen, sondern auch auf materiellen Erfolg? Die Zweifel überwiegen. Die Verjährung, heißt es, soll Rechtsfrieden schaffen, ihrer Aufhebung stehen daher hohe Hürden entgegen. Sie folgt einem Prinzip, das fast alle Gesellschaften hochhalten: Damit alter Streit beendet werden kann, muss irgendwann der Zustand, wie er ist, von allen Seiten akzeptiert werden – auch von denen, die Unrecht erlitten. Um diese hohe Hürde zu nehmen, führt der bayerische Gesetzentwurf eine Bedingung ein, die eine Rückgabe zwingend machen soll. Kunstwerke müssten danach dann zurückgegeben werden, wenn der bisherige Eigentümer "bei Erwerb des Besitzes nicht in gutem Glauben war", wenn er "bösgläubig" war.

Man kann leicht erkennen, dass auf diesem Wege so gut wie keine Rückgabe erfolgen würde. Erstens liegt die Beweispflicht für die Bösgläubigkeit bei dem Klagenden. Wie aber will er nach der verstrichenen Zeit den bösen Willen des neuen Besitzers beweisen, der viele Möglichkeiten hat, sich herauszureden. Zweitens haben viele der infrage kommenden Kunstwerke inzwischen mehrfach den Besitzer gewechselt. Dem bisherigen Letztbesitzer wird es daher nicht schwerfallen, seine Arglosigkeit plausibel zu machen – und in etlichen Fällen wird er tatsächlich von der Herkunft des Werks nichts gewusst haben. Es steht zu befürchten: Würde das Gesetz in Kraft treten, dann würde der Mehrheit der Klagenden richterlich bescheinigt, dass ihr ehemaliges Eigentum nun völlig rechtens perdu ist.

Eine zufriedenstellende Lösung des Problems wird es nicht geben können. Zwei Wege aber sind denkbar, ein harter und ein milderer. Der harte: Man verzichtet bei jedem geraubten Kulturgut auf die Verjährungsfrist und gibt in diesem Falle das Institut des Rechtsfriedens auf. Das wäre ein hoher, vielleicht ein gerechtfertigter Preis. Der mildere Weg: ein Appell an alle privaten Besitzer und alle Museen, die Causa Raubkunst nicht auf sich beruhen zu lassen und jeden ermittelbaren Fall zu verfolgen und publik zu machen. Schon die begründete Vermutung, ein Kunstwerk sei Teil von NS-Raubgut gewesen, würde dann ein schlechtes Licht auf den werfen, der es heute in Händen hält. Beide Lösungen hätten ihren Preis. Im einen Fall würde ein Rechtsgut beschädigt, im anderen Fall könnte ein Klima der Verdächtigungen und des Misstrauens entstehen. Es ist eine bittere Lehre: Was vor Jahrzehnten versäumt wurde, kann heute allenfalls in wenigen Fällen nachgeholt werden. Irgendwann wächst doch Gras darüber.

http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article123904276/Eine-traurige-Wahrheit.html
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