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Ein Buch von Marie – NS-Raubgut in der Stabi

1998
1970
1945
Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 15 February 2013
By Ulrike Preuss

Woldemor Oskar Döring: Psychoanalyse und Individualpsychologie. Lübeck 1928.

Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Signatur NSR A 1946/45129

Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Signatur NSR A 1946/45129

Woldemar Oskar Döring, am 24.10.1880 in Leipzig geboren und am 20.9.1948 in Lübeck gestorben, kann als der Mitbegründer der Schulpsychologie gelten.

Er studierte Jura und Philosophie in Leipzig und war nach seiner Promotion als Leiter der psychologisch-philosophischen Fortbildungskurse für Lehrer in Lübeck tätig. 1934 wurde er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, u.a. weil er sich für einen jüdischen Mitarbeiter eingesetzt hatte. Der Ausschluss war gleichbedeutend mit einem Publikationsverbot. Die von ihm zwischen 1934 und 1945 verfassten Schriften wurden posthum erst ab dem Jahr 2000 veröffentlicht.

Am 12.2.1943 wurde unter der Nummer 1943/1792 der Geschenkzugang des Buches Psychoanalyse und Individualpsychologie, Vorträge von Woldemar Oskar Döring vermerkt. Eigentlich nichts Besonderes, denn Bibliotheken bekommen jährlich Tausende von Büchern geschenkt. Und auch dieses Buch ist nur eines von vielen Geschenken, die unter dem Datum 12.2.1943 in das Zugangsbuch der SUB eingetragen wurden. Das Besondere aber war der „Schenker“, denn es handelte sich um niemand anderen als die Geheime Staatspolizei, die als Lieferant im Zugangsbuch genannt wird.

Und noch etwas anderes macht dieses Buch zu etwas Besonderem: Es ist eines von vier Büchern, die der Hamburger Jüdin Marie May Reiss gehörten und an sie und ihr Schicksal erinnern.

Der Lebensweg von Marie May Reiss

Marie Lazarus wurde am 22.1.1895 in Hamburg geboren und lebte mit ihren Eltern in der Abteistraße 24. Am 31.3.1920 heiratete sie Adolf Reiss. Nach einer kurzen Zeit in Lübeck siedelte das Ehepaar nach Hamburg in die Hagedornstraße 51 um. Ihre erste Tochter Annelise starb mit nur einem Jahr, zwei weitere Kinder, Tochter Ingeborg und Sohn Ernst Rudolf, wurden im August 1925 und August 1927 geboren. 1928 verstarb Adolf Reiss unerwartet. Marie und die beiden Kinder blieben in der Hagedornstraße in der Nähe ihres Elternhauses wohnen.

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme verschlechterte sich die Situation der Hamburger Juden rapide. Wie alle Juden musste auch Marie May Reiss beim Oberfinanzpräsidenten eine sogenannte Sicherungserklärung abgeben. In dieser wurden die Vermögensverhältnisse detailliert aufgeführt und anhand dieser ermittelt, welcher Geldbetrag der Familie künftig zur Verfügung stand. Aus diesen im Hamburger Staatsarchiv einzusehenden Akten lässt sich der immer beschwerlicher werdende Alltag der Familie ablesen. Selbst für die alltäglichsten Dinge mussten extra Zuweisungen beantragt werden: für das Bezahlen von Wasser- oder Arztrechnungen oder für den Kauf von Medikamenten. Selbst eine Bitte um Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken ist dort zu finden.

1938 wurde Ernst Rudolf in ein Quäkerinternat nach Ommen in Holland in die scheinbare Sicherheit gebracht, die Tochter Ingeborg blieb in Hamburg. Marie plante für die Familie die Auswanderung in die USA und beantragte Reisegelder, die sogar genehmigt wurden. Warum die Familie diese Chance nicht genutzt hat oder nicht nutzen konnte, ist nicht bekannt.

Stattdessen musste Marie mit ihrer Tochter Ingeborg 1941 die Wohnung in der Hagedornstraße verlassen und fand in ihrem Elternhaus Unterschlupf. Doch auch diese Sicherheit währte nur kurz. 1942 wurde das Haus in der Abteistraße zwangsverkauft. Marie, ihre Tochter Ingeborg und Maries Mutter Elisabeth Lazarus wurden am 2.7.1942 in die Judenhäuser in der Kleinen Papagoyenstraße 11 bzw. 1 umgesiedelt. Nach wenigen Tagen wurden Marie und Ingeborg am 11.7.1942 nach Auschwitz deportiert. Zwei Tage vorher, am 9.Juli, stellte Marie einen Antrag beim Oberfinanzpräsidenten auf Mittel für Reisekosten wegen „angeordneter Abwanderung“. Sogar die Deportation mussten die Betroffenen selbst bezahlen.

In Auschwitz verliert sich Maries und Ingeborgs Spur. Am 19.7.1942 wurde Maries Mutter Elisabeth Lazarus nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 3.6.1943 starb.

Auch Rudolf entkam der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nicht. Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht führte ihn sein Weg über die Lager Vught und Westerborg nach Theresienstadt. Von dort wurde er am 28.10.1944 nach Ausschwitz weitertransportiert und dort am 26.1.1945, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, erschossen.

Neben den vier Büchern im Bestand der SUB erinnern Gedenkblätter in der Yad Vashem Datenbank an die Familie und seit 2009 auch vier Stolpersteine vor dem Haus Abteistraße 24.

Die Suche nach den Erben der Bücher

Alle vier gefundenen Bücher enthalten den handschriftlichen Namenszug von Marie May Reiss bzw. Marie Lazarus.

Dieser Namenszug findet sich auch in den Akten des Oberfinanzpräsidenten Hamburg. Ein Vergleich der Unterschriften in den Akten mit den Besitzvermerken in den Büchern identifiziert sie als deren rechtmäßige Besitzerin.

Eine Spur zu den Erben ergab die Recherche in der Yad Vashem Datenbank. Ein Neffe von Marie May Reiss, dem die Ausreise nach Großbritannien gelungen war, hatte für sie und die beiden Kinder Ingeborg und Ernst Rudolf jeweils ein Gedenkblatt in die Datenbank eingestellt. Über die dort angegebene Adresse konnten wir ihn kontaktieren und ihm die Rückgabe der Bücher seiner Tante anbieten.

Herr H. H. M. hat sich sehr über die Möglichkeit der Rückgabe der Bücher gefreut, diese dann aber der Bibliothek in der Hoffnung überlassen, dass sie den nachfolgenden Generationen Erinnerung und Mahnung sein mögen.

Zu den Gedenkblättern in Yad Vashem von

Marie May Reiss

Ingeborg Reiss

Rudolf Reiss

NS-Raubgut in der Stabi

Auf den verschiedensten Wegen, z.B. über die Gestapo Hamburg, gelangten in der Zeit von 1933 - 1945 Bücher von Verfolgten des Naziregimes in unsere Bibliothek. Bis heute lagert dieses NS-Raubgut in den Bibliotheksmagazinen.

1999 haben sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände in einer gemeinsamen Erklärung das Ziel gesetzt, noch im Besitz öffentlicher Einrichtungen befindliches NS-Raubgut zu ermitteln und an die rechtmäßigen Eigentümer bzw. deren Erben zurückzugeben. Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky hat sich dieser Erklärung angeschlossen und sucht seit 2006 aktiv in ihren Beständen nach NS-Raubgut (siehe Projektseite). In mehreren Fällen haben Bücher inzwischen den Weg zu den rechtmäßigen Eigentümern (zurück-)gefunden.


http://www.sub.uni-hamburg.de/bibliotheken/presse-ausstellungen-und-veranstaltungen/ausstellungen-und-veranstaltungen/online-ausstellungen/expo-des-monats/februar-2013.html
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