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Verlorene Bücher: Das jüdische Museum in Rom sucht seine von Nationalsozialisten geplünderte Bibliothek

1998
1970
1945
Deutschlandradio 22 May 2012
Von Thomas Migge

Während der deutschen Besatzung Mittel- und Norditaliens von 1943 bis 1945 wurden nicht nur fast alle italienischen Juden in Vernichtungslager verschleppt, sondern auch jüdische Kulturgüter geraubt - wie der bibliophile Schatz der jüdischen Gemeinde in Rom.

sagen, wo diese Bücher sind. Ob sie irgendwo in Berlin ein Opfer von Bomben wurden, ob sie auf dem Weg nach Berlin verloren gingen oder irgendwo in einer privaten Bibliothek oder einem öffentlichen Archiv untergebracht sind - wir wissen es nicht. Es gibt keine vernünftige Erklärung für dieses Rätsel."

Guido Vitale fragt sich - wie viele italienische Juden -, wo Tausende von historischen Dokumenten und Büchern sind. Der Journalist und Chefredakteur der jüdischen Zeitschrift "Pagine Ebraiche" beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte eines bibliophilen Schatzes. Kostbare Schriftdokumente, die während der deutschen Besatzung Italiens gestohlen und ins so genannte "Dritte Reich" transportiert wurden. Von 1943 bis 45, nach dem Sturz Mussolinis, hielten die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS Mittel- und Norditalien unter ihrer Kontrolle. In dieser Zeit wurden nicht nur fast alle italienischen Juden in deutsche Vernichtungslager verschleppt, in denen die meisten von ihnen umkamen, sondern auch Kulturgüter. Dazu der Historiker Michele Sarfatti:

"Seit den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das ganze Ausmaß der Shoah in der Welt bekannt. Dank historischer Forschungsergebnisse, die damals ihre Runde machten. Dass die Shoah auch die Zerstörung jüdischen Kulturerbes zum Ziel hatte, wissen hier nur die wenigsten. Am Beispiel Roms wird deutlich, dass die Nazis das 'Problem' der Juden auch kulturpolitisch lösen wollten."

Vor allem Thorarollen, Dokumente und Bücher aus über 1500 Jahren jüdischer Kulturgeschichte wurden den römischen Juden gestohlen. Die jüdische Gemeinde existiert seit dem 2. Jahrhundert vor Christus. Sie ist damit die älteste Europas. Mehr als nur geduldet unter den Kaisern und dann unter den Päpsten, lebte diese Gemeinschaft weitgehend ohne die Angst vor Pogromen, die ihre Glaubensbrüder anderswo haben mussten. Die römischen Juden mussten zwar in einem Ghetto leben, brauchten aber jahrhundertelang Verfolgung und Tod nicht zu fürchten. Sie waren integriert und konnten dadurch unbehelligt ein religiös-kulturelles Leben entwickeln, das vor allem in geistlichen Schriften zum Alten Testament und zur Kabbala seinen Ausdruck fand.

Im Herbst 1943 erforschten zwei deutsche Offiziere die historischen Schriften der römischen Juden. Tausende dieser Schriften wurden anschließend nach Deutschland gebracht - wie es heißt auf direkte Anweisung von Heinrich Himmler. Die konkrete Durchführung dieses Raubzugs lag in der Verantwortung des "Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg", der für die Nazi-Kunst-Plünderung im besetzten Europa zuständig war. Unter den auf diese Weise geraubten Büchern befanden sich rare Exemplare zu Ausführungen von Rabbinern zur jüdischen Lehre und zur Kabbala. Die wertvollsten Schriften stammen aus dem 15. bis 18. Jahrhundert.

"Obwohl sie die Juden verachteten, interessierten sich bestimmte Nazikreise um Himmler sehr für jüdische Bücher. Sie wollten mit dem Studium unserer Schriften den jüdischen Geheimnissen auf die Spur kommen, so als ob wir den Stein der Weisen besitzen würden. Man wollte sich des vermeintlichen jüdischen Geheimwissens bemächtigen, um die Judenfrage endgültig zu lösen."##

Nach Kriegsende und mit der Rückkehr von Juden nach Rom versuchte die neue Gemeinde, ihre Bücher wiederzufinden. Mithilfe diplomatischer Interventionen italienischer Nachkriegsregierungen in der Bundesrepublik hoffte man, wenigstens einen Teil der wichtigsten historischen Schriften zurückzubekommen. Doch diese Suche war erfolglos. Auch der Einsatz jener Sonderbehörde des italienischen Kulturministeriums, die sich mit der Beschaffung der von Nazis geraubten Kunst aus Italien beschäftigt, wurde im Fall der jüdischen Schriften aus Rom nicht fündig. Die Buchschätze blieben verschwunden.

Die jüdische Gemeinde Rom verfügt nicht über die notwendigen Finanzmittel, um Privatdetektive nach Deutschland zu schicken, die in Archiven und Bibliotheken auf die Suche nach jüdischem Schriftgut aus Rom gehen. So hofft man jetzt auf einen großzügigen Spender, der das Geld für diese aufwendige Suche bereitstellt.

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