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Der Geschmack von Asche. Deutschland braucht endlich ein Raubkunstgesetz - The Taste of Ashes - Germany finally needs a new looted art law

1998
1970
1945
Die Welt 11 April 2014
Von Jacques Schuster

Der Fall Cornelius Gurlitt zeigt, wie leicht sich das Problem der Raubkunst verflüchtigt, wenn Wohlwollen und der Wunsch nach Wahrhaftigkeit herrschen. Doch die Museen sind noch hinterhältig träge. 

 
Foto: picture alliance / ZB Die Schatten der Geschichte: Der Kunstsammler Hildebrand Gurlitt, hier auf einem Porträt in einer Ausstellung in Zwickau, hat zahlreiche Kunstwerke aus Raubkunstbeständen seinem Sohn vermacht 

In diesem Frühling erschien im Beck-Verlag ein Buch der amerikanischen Historikerin Marci Shore über das zähe Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. Darin berichtet die junge Professorin aus Yale von ihren Streifzügen zwischen Prag und Posen, Warschau und Vilnius, Krakau und Kiew. Anhand kleiner Episoden aus dem Alltag jener Städte und vieler Orte, die eher Provinzlöchern als Dörfern gleichen, schildert Shore, wie leicht es ist, dort die Gespenster der Vergangenheit aus ihren Verstecken zu locken.

"Der Geschmack von Asche" ist der Titel ihrer feinfühligen Erzählung, die auch auf Ungarn zuträfe, hätte Marci Shore das Land besucht. Vor genau siebzig Jahren marschierten die Deutschen in Ungarn ein. Sie fanden dort Menschen vor, die es kaum abwarten konnten, ihre jüdischen Nachbarn in Ghettos zu verfrachten. Innerhalb eines Jahres wurden 560.000 Juden ermordet.

Bis heute fällt es den Ungarn schwer, sich diesem trüben Teil ihrer Geschichte zu stellen – die Sprache der Politik in Budapest offenbart die Bürde der verdrängten Vergangenheit Tag für Tag. Sie ist wenigstens zum Teil auch für die Kapriolen verantwortlich, die an der Donau geschlagen werden. Irgendwann werden auch die Ungarn verinnerlichen, dass Johann Strauß' Weisheit "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist" nur eine ist, die ausschließlich für die "Fledermaus"-Welt der Operette gilt.

Geschmack von Asche

Den "Geschmack von Asche" werden die Europäer nicht los. Sie mögen ihn noch so gründlich auszuspülen oder verbissen zu verdrängen suchen. Er bleibt. Was immer man auch tut. Allerdings kann er über die Jahrzehnte schwächer werden; dann aber muss man sich der Geschichte stellen – ohne Furcht, um Wahrheit bemüht, schonungslos.

Der Umgang der Deutschen mit der eigenen Niedertracht zwischen 1933 und 45 belegt, dass dieserart Anstrengungen nicht nur der Gesellschaft und ihrer Demokratie gut tun, sondern auch zu einer Linderung der seelischen Last führen. Er zeigt zugleich, dass selbst die Deutschen nach all den Jahren der Beschäftigung mit der Vergangenheit immer wieder den Geschmack der Asche wahrnehmen. Besonders drückend wird er, wenn manche Personen oder Institutionen der "vitalen Vergesslichkeit" anheimfallen, die Dolf Sternberger für die junge Bundesrepublik beklagte. Schreitet sie voran, wird das Silvesterlied der "Fledermaus" gar zur Regel, dann kann aus dem faden Geruch der Mundhöhle leicht eine schleichende Sepsis werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: Während wir uns in Deutschland seit 1945 der Geschichte zu stellen versuchen und dabei immer wieder von vorn beginnen, müssen wir seit einiger Zeit entgeistert zur Kenntnis nehmen, dass wir beim Durchforsten der Vergangenheit so manche Schmuddelecke übersehen haben oder allzu eilig an ihr vorbeihuschten. Schlimmer noch: Die Verantwortlichen in diesen Winkeln taten alles, um die Vergehen ihrer Vorgänger zu verbergen und damit die Verbrechen, die bis 1945 begangen wurden, zu verewigen. Die Rede ist von den Museumsdirektoren, ihrer Gier, dem Widerwillen, geraubte Kunstwerke zurückzugeben und den Klimmzügen, um von dem Unrecht abzulenken.

Hinterhältige Trägheit

Kurz nach Kriegsende riet der Hannoveraner Museumsdirektor Ferdinand Stuttmann einem Bekannten, die Raubkunst "besser in den Kisten" zu lassen. Ernst Holzinger, der Direktor des Frankfurter Städel von 1938 bis 1972, handelte in diesem Sinne. Noch ehe die Rückgabe und der Schadensersatz ernsthaft angelaufen waren, verfasste Holzinger ein Memorandum zur "Festsetzung eines naheliegenden Termins für den Abschluss der Restitution".

Sein Vorstoß stieß nicht nur in anderen Museen auf offene Ohren, ihn begrüßten auch die Bürgermeister aller deutschen Gemeinden. Noch in den Sechzigerjahren erklärte der Städtetag, die Rückgabe geraubter Kunstschätze zu beenden. Ein Sinneswandel fand niemals statt.

Zwar unterschrieb die Bundesregierung 1998 die "Washingtoner Erklärung", die auf eine freiwillige Rückgabe geraubter Kunstwerke setzte, und fügte ein Jahr später zusammen mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden die "Berliner Erklärung" hinzu – sie versprach die aktive Suche nach entwendeten Schätzen –, im Großen und Ganzen aber blieben die Verantwortlichen in den Museen hinterhältig träge.

Nervöse Museumsdirektoren

Bis heute finden die Sprecher der meisten öffentlichen Häuser – vom Heimat- bis zum Kunstgewerbemuseum – stetig neue Ausflüchte, um der moralischen Selbstverpflichtung, die sie 1998 eingegangen sind, zu entgehen. Noch immer hängen allein sechzig Kunstwerke in deutschen Museen, die dem jüdischen Sammler Alfred Flechtheim der Verfolgung geschuldet "abhanden" kamen. Und die Limbach-Kommission, die seit 2003 Streitfälle klären soll, kommt kaum zum Zug. Die öffentlichen Museen meiden sie.

Der peinliche Tiefpunkt in dieser Atmosphäre zeigt sich jüngst in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Am Donnerstag ließ deren Präsident Hermann Parzinger Oskar Kokoschkas Gemälde "Pariser Platz in Berlin" aus seinem Büro entfernen. Es sei nicht ausgeschlossen, so Parzinger, dass Anna Caspari ihren Kokoschka 1934 unter Druck und Wert verkaufen musste. Seltsam, dass Parzingers Vorgänger nicht schon 1999 – ein Jahr nach Unterzeichnung der "Washingtoner Erklärung"! – misstrauisch wurde, als er Kokoschkas Bild für sein Amtszimmer erwählte.

Die Aufregung im Fall Cornelius Gurlitt scheint die Herren Museumsdirektoren nervös zu machen. Galt der Münchener in der Öffentlichkeit eben noch als ein so impertinenter wie einfältiger Greis, der sich mit seines Vaters Kunstschätzen in der Gegenwart verwirrt hat, ist Gurlitt jetzt ein Beleg dafür, wie zügig sich das Problem der Raubkunst verflüchtigt, wenn die derzeitigen Besitzer der Kunstgegenstände zur Aufklärung bereit sind.

Freilich: Die Museen haben ihre Gelegenheit dazu gehabt. Sechzehn Jahre nach Abschluss der "Washingtoner Erklärung" wird es Zeit, die Freiwilligkeit im Rückgabeverfahren durch Zwang zu ersetzen. Deutschland braucht endlich ein Raubkunstgesetz, mit dessen Hilfe eine Kommission für Provenienzforschung die Bestände der Museen durchsucht und als geraubt identifizierte Werke sofort zurückgibt. Die Österreicher haben dieses Gesetzt 1998 in Kraft gesetzt. Der Geschmack von Asche ist in Wien seither erträglich.

English summary:

The case of Cornelius Gurlitt shows how easily the problem of looted art evaporates when benevolence and the desire for truth prevail. But the museums are still resistant and slow, finding ever new excuses to escape the moral commitment that they entered into in 1998. The low point was reached this week with the Kokoschka on Hermann Parzinger's wall that Anna Caspari had sold under pressure and under value. It is now time to replace the voluntary nature of the restitution process through coercion.

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article126855695/Deutschland-braucht-endlich-ein-Raubkunstgesetz.html
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