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Frau Roth will die Wahrheit - Mrs Roth wants the Truth

1998
1970
1945
Frankfurter Allgemeine 2 April 2013
By Andreas Nefzger

Die Provenienzforscherin des Frankfurter Städel sucht in den Beständen des Museums nach Raubkunst. Dazu rekonstruiert sie die Geschichte von 900 Gemälden. Das klappt aber nicht immer.


Kunst und Verbrechen: Nicole Roth auf der Suche nach dem entscheidenden Hinweis auf Raubkunst im Archiv des Städel-Museums.

Nicole Roth mag Gelb nicht. Denn Gelb steht für Ungewissheit. Und Ungewissheit ist schlecht, wenn jemand, so wie sie, nach der Wahrheit sucht. Roth ist Provenienzforscherin im Frankfurter Städel-Museum, man könnte auch sagen: Detektivin für die Geschichte von Gemälden. Ihre Aufgabe ist es, die Herkunft von Bildern lückenlos zu rekonstruieren. Wem gehörte das Bild, bevor es ins Museum nach Frankfurt kam? Und vor allem: Ging es mit rechten Dingen zu, als es seine Besitzer wechselte? Roth will wissen, ob Gemälde in der Nazizeit unrechtmäßig aus jüdischem Besitz in das Städel gelangt sind - beschlagnahmt, enteignet, unter Zwang zu einem lächerlichen Preis verkauft, weil es die Lebensumstände der Besitzer erzwangen. Sprich: ob es sich um Raubkunst handelt. Zu einem eindeutigen Ergebnis kommt sie nicht immer. Dann klebt sie auf die Akte des Gemäldes einen gelben Punkt. Und ärgert sich jedes Mal aufs Neue.

Dass ein Museum eine Stelle darauf verwendet, die eigenen Bestände nach Raubkunst zu durchkämmen, ist nicht selbstverständlich. Vor allem bei kleinen Häusern ist das auch schwer machbar. Neben dem Städel leistet sich in Frankfurt nur das Historische Museum eine eigene Provenienzforscherin. Andere Häuser hoffen auf Studenten, die zum Thema forschen, oder vergeben Einzelaufträge an Kunsthistoriker, wenn Erben Anspruch auf ein bestimmtes Werk erheben. Viele enteignete Kunstwerke wurden schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg auf Bestreben der Alliierten an die zumeist jüdischen Besitzer zurückgegeben - aber längst nicht alle. Deshalb nahm sich die „Washingtoner Konferenz“ im Jahr 1998 des Problems abermals an. Deutschland verpflichtete sich, Raubkunst aufzuspüren und gemeinsam mit den früheren Besitzern oder deren Erben gerechte Lösungen zu suchen.

„Jedes Gemälde ist ein eigener Fall“

Der Weg dorthin ist langwierig. Vor gut zehn Jahren hat Roth, 41 Jahre alt und Kunsthistorikerin, ihre Stelle im Städel angetreten. Seitdem arbeitet sie sich durch die Inventarliste des Museums und untersucht alle Gemälde, die vor 1945 entstanden sind und nach 1933 ins Haus kamen. Es sind nahezu 900. Mehr als die Hälfte von ihnen hat sie mittlerweile bearbeitet. Routine stellt sich dabei nicht ein: „Jedes Gemälde ist ein eigener Fall“, sagt Roth. „Man weiß vorher nie, wie man zum Ziel kommt.“

Roth vergleicht ihre Arbeit mit einem Mosaik: Sie muss winzige Teile zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Erst wenn auch das letzte Stück an seinem Platz liegt, hat sie Gewissheit. Viel Zeit verbringt sie dafür im Archiv und in der Bibliothek des Städel. Zwischen deckenhohen Bücherregalen und Aktenschränken blättert sie sich durch Auktionskataloge aus den dreißiger Jahren, durch Werkkataloge von Künstlern, vergilbte Fachzeitschriften und Korrespondenzen des Museums mit Kunsthändlern und Privatpersonen. Wenn sie dort nicht weiterkommt, beantragt sie Unterlagen aus anderen Archiven oder fährt selbst hin. Auf den entscheidenden Hinweis kann sie überall stoßen. Vielleicht auf der Rückseite eines Gemäldes, auf der ein Besitzerwechsel vermerkt wurde. Vielleicht auch nirgends.

Die Farbe Gelb

So wie bei „Landschaft mit Jakob am Brunnen“. Das Bild des niederländischen Malers Hans Bol ging 1936 in den Besitz des Städel über. Im Archiv fand Roth ein Schreiben des damaligen Direktors der Städtischen Galerie, Alfred Wolters, an seine Besitzerin aus Bad Vilbel. Es ist ein Angebot über 200 Reichsmark, unterschrieben mit „Heil Hitler“. Beim Bad Vilbeler Standesamt fand Roth heraus, dass die Frau evangelisch war. Der Kauf war rechtmäßig. Wie das Bild aber in den Besitz der Frau gekommen war, erfuhr sie nicht. Als sie allen Quellen und möglichen Hinweisen ohne Ergebnis nachgegangen war, versah sie die Akte mit einem gelben Aufkleber: Herkunft konnte nicht lückenlos rekonstruiert werden.

Die Sache mit den Aufklebern hilft Roth, den Überblick zu behalten. Weil sie oft auf Antworten von Archiven oder Ämtern warten muss, bearbeitet sie viele Fälle gleichzeitig. Für jedes Gemälde legt sie eine Klarsichtmappe an, in der sie Kopien der wichtigsten Dokumente und Informationen sammelt. Rund 60 dieser Mappen stapeln sich gerade in einem Regal neben ihrem Schreibtisch, der im Liebieghaus steht, vom Städel ein paar Schritte den Schaumainkai entlang. Wenn es schnell geht, liegen die Mappen hier einen Monat. Bei anderen dauert es mehr als zwei Jahre, bis Roth einen ihrer kleinen runden Sticker aufkleben kann. Neben gelben benutzt sie rote und grüne. Grün steht dafür, dass die Herkunft des Gemäldes lückenlos bekannt ist und es rechtmäßig erworben wurde. Rot bedeutet Raubkunst.

Menschen statt Papier

Neun Kunstwerke hat Roth bislang als geraubt identifiziert und ihre rechtmäßigen Besitzer ausfindig gemacht. Manche Werke gingen an die früheren Eigentümer oder ihre Erben, andere kaufte das Städel zurück. Zu einer Handvoll Gemälde hat Roth den Besitzer noch nicht gefunden. Spätestens dann, wenn der rote Aufkleber auf der Mappe haftet und sie sich auf die Suche nach Überlebenden der Eigentümerfamilie begibt, geht es bei Roths Arbeit nicht mehr um das kühle Nachvollziehen von Transaktionen. Dann verfolgt sie Schicksale von Opfern des Rassenhasses. So wie das des Anwalts, der dem Städel 1933 ein Bild verkaufte. Roths Spurensuche zeigte, wie er in Ruin und Tod getrieben wurde. Nach dem Berufsverbot zog er mehrfach um, seine Wohnungen wurden immer kleiner, schließlich wurde er nach Theresienstadt deportiert. „Die Geschichten zu den Personen sind tragisch, das macht mich manchmal sehr betroffen“, sagt Roth. Einmal kam ein älterer Herr aus der Schweiz persönlich vorbei, um seinen „Edelschmied in der Werkstatt“ von Egbert van der Poel abzuholen. „Das war sehr emotional“, sagt Roth. „Ich habe ja sonst immer nur mit Papier zu tun, und auf einmal stand er da.“

Auch wenn es so aufregend nicht immer ist und in der Bibliothek manchmal auch etwas einsam, langweilig findet Roth ihren Beruf nie. „Ich mag die Rekonstruktion, die verzweigte Recherche, die alten Akten“, sagt sie. „Und es ist immer ein extrem gutes Gefühl, wenn man die Geschichte eines Bildes aufgeklärt hat.“ Knapp 450 Gemälde hat Roth noch vor sich. Wie lange sie dafür brauchen wird, kann sie nicht abschätzen. Sie weiß aber, dass sie die Arbeit gerne zu Ende brächte. Und wenn sie fertig ist, dann will sie sich all die Klarsichtmappen zurück auf den Schreibtisch holen, die sie mit einem gelben Aufkleber versehen hat. Nicole Roth mag Gelb nicht.

http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/provenienzforschung-im-staedel-frau-roth-will-die-wahrheit-12135577.html
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